Wie die Methode des ontogenetischen Denkens funktioniert, sei an einem einfachen Beispiel demonstriert. Nehmen wir dazu ein technisches Gerät, dessen Verwendungszweck, Aufbau und Herkunft wohlvertraut sind: Das Auto.
Zunächst zur Phänomenologie: Welche beobachtbaren Eigenschaften hat ein Auto?
Die hervorstechendste Eigenschaft steckt bereits in seinem Namen. Automobil bedeutet „Das sich selbst Bewegende“. Autos können fahren, d.h. beschleunigen, sich mit verschiedenen Geschwindigkeiten vorwärts und rückwärts bewegen, die Fahrtrichtung nach rechts und links ändern, bremsen und anhalten. Autos werden dazu verwendet, um Menschen oder Gegenstände zu transportieren. Wenn man Autos in ähnlicher Weise eingehend beobachtet, wie ein Zoologe eine neue Tierart in ihrem Verhalten erforscht, so wird man weitere Eigenheiten feststellen, die allerdings nur gelegentlich oder bei bestimmten Umständen auftreten – etwa, dass Autos bei Nachtfahrten meistens mit hell erleuchteten Scheinwerfern unterwegs sind oder manchmal optische bzw. akustische Signale abgeben.
Nun zur Ontologie: Welche Komponenten braucht ein Auto, um diese von außen beobachtbaren Eigenschaften hervorzubringen?
Die Gesetze der Physik lehren uns, dass ein materielles Objekt wie ein Auto nur beschleunigen kann, wenn es Bewegungsenergie aus einer anderen Energieform gewinnt. Es braucht also einen Motor, dem Energie aus einem Speicher zugeführt wird, die vom Motor über Zwischenglieder auf einen Antrieb übertragen wird. Eine Lenkung wird benötigt, damit ein Auto seine Fahrtrichtung ändern kann. Und ohne Bremsen könnte ein Auto seine Geschwindigkeit nicht abrupt stark verringern und anhalten. Eine Karosse muss die einzelnen Komponenten zusammenhalten. Damit der Fahrer herausschauen und sich nach allen Seiten orientieren kann, muss die Karosse entweder Öffnungen enthalten oder es müssen Hilfsmittel wie Spiegel und Rückfahrkameras montiert sein. Zudem braucht es Türen, damit Menschen ein- und aussteigen oder Gegenstände ein- und ausgeladen werden können. Für gelegentlich zu beobachtenden Zusatzfunktionen braucht es noch weitere Komponenten – Lampen, Bremsleuchten, Blinker und Hupe, vielleicht auch noch ein Autoradio. Diese wiederum brauchen eine geeignete Energieversorgung und eine Steuerung.
Wie genau diese Komponenten im Einzelnen realisiert sind, kann von Auto zu Auto verschieden sein. Manche Autos besitzen einen Verbrennungsmotor, der mit Benzin, Diesel oder Erdgas betrieben wird; andere Autos haben einen Elektroantrieb, der von einer Batterie oder einer Brennstoffzelle mit Strom versorgt wird. In den meisten Autos treibt der Motor über Getriebe und Achsen die Vorderräder an, es gibt aber auch Allradantriebe, Kettenfahrzeuge und andere Sonderbauweisen. Manche Autos haben Sitze für nur zwei Personen, in anderen Autos gibt es Sitze für fünf oder sieben Leute.
Allein anhand der von außen beobachtbaren Eigenschaften kann man nicht wissen, wie genau das jeweilige Auto aufgebaut ist – dafür muss man das Auto in seine Einzelteile zerlegen oder seine Entstehung mitverfolgen. Aber welche Komponenten ein Auto grundsätzlich besitzen muss, kann man aus seinen phänomenologischen Eigenschaften schließen, wenn man über grundlegende Theorien verfügt, wie unsere Welt funktioniert.
Nun zur dritten Perspektive – der Genealogie: Wie entsteht ein Auto?
Um diese Frage zu beantworten, müssen wir die Spur eines Autos in die Vergangenheit zurückverfolgen. Wir werden feststellen, dass der Besitzer des Autos den Wagen in einem Autohaus gekauft hat, wohin es mit einem Sattelschlepper und zuvor einem Güterzug aus einer großen Fabrik gekommen ist. Dort werden Autos am Fließband von Robotern und Arbeitern aus einer großen Zahl von Einzelteilen zusammengebaut, die aus verschiedenen anderen Fabriken stammen, die wiederum von weiteren Fabriken mit Vorprodukten beliefert werden.
Dies ist aber nur die Geschichte des individuellen Autos. Es gibt auch noch eine Geschichte des Autos als Gattung. Es hat nicht schon immer Autos auf der Welt gegeben. Das Auto wurde erst Ende des 19. Jahrhunderts erfunden. Die ersten Autos waren Kutschen, die von Männern wie Carl Benz und Gottlieb Daimler mit einem Verbrennungsmotor ausgestattet wurden. Im Laufe der Jahrzehnte änderte sich das typische Aussehen der Autos, die Verfahren ihrer Herstellung wurden sukzessive optimiert. Henry Ford führte die Herstellung am Fließband ein, später verdrängten Industrieroboter die Arbeiter zunehmend aus den Werkhallen. Aufgrund gesetzlich geforderter Sicherheits- und Umweltstandards kamen neue Komponenten wie Sicherheitsgurte und Katalysatoren in den Autos dazu. Klimaanlagen, Sitzheizungen, elektrische Fensterheber und Navigationssysteme wurden im Laufe der Zeit von einer Sonderausstattung zur Standardausstattung und machten das Autofahren immer bequemer.
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