Die Methode des ontogenetischen Denkens ist eine Heuristik, die bei der Analyse eines Systems hilfreich sein kann.

Eine gute Theorie zeichnet sich dadurch aus, dass sie einen möglichst breiten Bereich an Phänomenen erfassen und adäquat erklären kann. Wenn man also vor der Aufgabe steht, ein unbekanntes System zu erfassen, sollte der erste Schritt darin bestehen, die Eigenschaften des Systems möglichst umfassend zu beobachten. Dies klingt nach einer einfachen Aufgabe. Doch sie ist weitaus schwieriger als gemeinhin angenommen. Jeder wird beim Experimentieren im Schulunterricht schon die Erfahrung gemacht haben, dass es gar nicht so einfach ist, bei einem unbekannten Experiment auf die richtigen Aspekte zu achten und diese im Versuchsprotokoll festzuhalten. Leicht geschieht es, dass man sich auf Phänomene konzentriert, die sich am Ende als nebensächlich herausstellen, und das Wesentliche dabei übersieht, auf das der Lehrer eigentlich hinauswollte. Wenn man andererseits bereits eine klare Vorstellung davon hat, was man vor sich hat, glaubt man die wesentlichen Phänomene bereits zu kennen – so wie der behandelnde Arzt, der schon die Diagnose stellt, obwohl der Patient noch gar nicht die Schilderung seiner Symptome beendet hat. In diesem Fall öffnet man schnell eine mentale Schublade und achtet nicht mehr auf andere Phänomene, die nicht zu der gewählten Schublade passen. Es gilt das alte Sprichwort: „Wer als Werkzeug nur einen Hammer kennt, sieht überall Nägel.“ Unsere Sinneswahrnehmungen sind keine unverstellten Eindrücke, sondern abhängig von unseren Vorstellungen über die Welt. Oder wie Albert Einstein es ausdrückte: „Die Theorie bestimmt, was gemessen werden kann.“ Daher bedarf es eines geübten und gleichzeitig wachen Auges, wenn man ein System möglichst umfassend phänomenologisch beschreiben will.

Um dem Leser die Aufgabe zu erleichtern, ein System möglichst umfassend zu beschreiben, wollen wir an dieser Stelle noch einige Praxistipps geben: Befasst man sich mit einem unbekannten System, so sollte man danach trachten, zunächst einen groben Eindruck zu gewinnen, statt sich gleich vertieft mit ausgewählten Aspekten zu befassen. Man sollte seine Aufmerksamkeit bewusst auf ganz unterschiedliche Phänomenbereiche lenken, um ein möglichst breites Spektrum an Eigenschaften zu erfassen. Besonderes Augenmerk verdienen dabei ungewöhnliche Eigenheiten, die man anderswo noch nie beobachtet hat, sowie Eigenschaften, die das System mit anderen bekannten Systemen teilt. Um nicht in einer Flut von gleichrangigen Beobachtungen zu ertrinken, sollte man zudem darauf achten, welche Eigenschaften unmittelbar ins Auge springen und welche Eigenschaften nur unter besonderen Umständen zutage treten. Bei konditionalen Eigenschaften – also solchen Eigenschaften, die nur unter bestimmten Umständen auftreten – sollte man zudem die Begleitumstände und deren Einfluss auf die Ausprägung der Eigenschaft möglichst präzise erfassen. Wenn ein System konditionale Eigenschaften besitzt, ist es mit einem reinen Beobachten eines Systems oft nicht getan, sondern man muss gezielt Experimente anstellen, um die ganze Bandbreite des Systemverhaltens kennenzulernen. 

Bei der Erfassung der Eigenschaften eines Systems sollte man jedoch stets im Kopf behalten, dass sich die Eigenschaften eines Systems stets nur in Interaktion mit der Umwelt des Systems zeigen. Es kann also sein, dass die Eigenschaften des Systems durch unser Beobachten beeinflusst werden, dass sich manche Eigenschaften des Systems mit den uns zur Verfügung stehenden Beobachtungsmöglichkeiten überhaupt nicht erfassen lassen oder dass bestimmte Eigenschaften nur deshalb zutage treten, weil wir das System in einem Experiment dazu zwingen. Es ist daher ein gewagter Schluss, aufgrund einer getätigten Beobachtung zu unterstellen, dass ein System die betreffende Eigenschaft per se besitzt. In diesem Zusammenhang sei an die Unterscheidung zwischen primären und sekundären Qualitäten erinnert, die Galileo Galilei (1564-1642) vornahm. Primäre Qualitäten kommen einem Objekt selbst zu, sekundäre Qualitäten erhält ein Objekt erst durch das Zusammenspiel mit dem Beobachter. Im Grunde genommen sind jedoch alle Eigenschaften eines Systems sekundäre Qualitäten, die nur durch Interaktion mit dem Beobachter zustande kommen. In manchen Fällen mag es jedoch berechtigt sein, eine Eigenschaft einem System auch dann zuzuschreiben, wenn es gerade nicht beobachtet wird. Inwieweit diese Annahme berechtigt ist, lässt sich durch Empirie allein unmöglich beantworten. Dafür muss man eine Vorstellung vom inneren Aufbau des Systems und seinen Wechselwirkungen mit der Umwelt haben, über die wir das System beobachten und experimentell beeinflussen können.

Damit kommen wir zum zweiten Schritt, dem Erschließen des inneren Aufbaus des Systems, aus dem die beobachteten Eigenschaften des Systems resultieren. Während der erste Schritt sich mit der empirischen Erfassung der Eigenschaften eines Systems befasste und damit auf der phänomenologischen Betrachtungsebene stattfand, ist der zweite Schritt theoretischer Natur. Denn der innere Aufbau eines Systems lässt sich meist durch bloßes Beobachten nicht herausfinden. Wenn man die Möglichkeit dazu hat, sollte man das System in seine Bestandteile zerlegen und die Eigenschaften der Elemente und ihr Zusammenspiel studieren. Hat man diese Möglichkeit nicht, bleibt noch der Vergleich mit anderen Systemen, die ähnliche phänomenologische Eigenschaften zeigen und deren Aufbau man besser kennt. Ziel ist die Erstellung eines mentalen Modells des Systems, aus dem sich die beobachteten Eigenschaften des Systems vollständig und präzise ableiten lassen. Richtschnur für die Erstellung dieses Modells sollte unser generalisiertes Wissen über den Aufbau der Welt sein, das auch hier zur Anwendung kommen sollte, damit das Modell nicht im Widerspruch zu unseren allgemeinen Ansichten steht. Dennoch bedarf es stets einer ordentlichen Portion Phantasie, um ein passendes Modell zu erstellen.

Um auf einen geeigneten Ansatzpunkt für die Modellbildung zu kommen, kann die Befassung mit der zeitlichen Entwicklungsgeschichte des Systems hilfreich sein. Der innere Aufbau des Systems muss ja auf irgendeine Weise zustande gekommen sein. Durch eine Betrachtung der Entwicklungsgeschichte erhält man daher oft Hinweise auf den Aufbau eines Systems. Leider liegt die Vergangenheit nicht wie ein offenes Buch vor uns, in dem man nach Belieben blättern kann. Zeugnisse der Vergangenheit werden rar, je weiter wir in der Zeit zurückschauen. Glücklicherweise gibt es in der Realität von den meisten Systemen nicht nur ein einziges Exemplar, sondern eine große Zahl, sodass man von der Kenntnis der Entwicklungsgeschichte eines Individuums auf den prinzipiellen Verlauf der Entwicklungsgeschichte anderer Individuen derselben Gattung schließen kann. Man muss einen Vogel nicht ununterbrochen beobachtet haben, um zu wissen, dass er aus einem Ei geschlüpft ist – es genügt, dass Naturforscher dies an anderen Vögeln beobachtet haben und wir dieses Wissen erlernt haben. Die Zuordnung von Systemen zu übergeordneten Gattungen hilft bei der Erfassung der Entwicklungsgeschichte und bei der Modellierung ihres inneren Aufbaus ungemein. Andererseits ist es so, dass die Dualität von Individuum und Gattung die Frage nach der zeitlichen Entwicklungsgeschichte dupliziert – neben dem Individuum hat natürlich auch die Gattung eine Entwicklungsgeschichte, die für das Verständnis des Systems ebenfalls wichtig ist, aber häufiger schlechter zu erfassen ist, weil sie sich über einen wesentlich längeren Zeitraum erstreckt hat als die Entwicklungsgeschichte des Individuums.     

Insgesamt bedarf es also dreier Schritte, um ein System adäquat zu erfassen: Erstens die empirisch-phänomenologische Erfassung der Eigenschaften des Systems, zweitens die theoretisch-ontologische Erklärung dieser Eigenschaften anhand des inneren Aufbaus des Systems und drittens die historisch-genealogische Beschreibung des Entstehungsweges des Systems. Diesen Dreiklang nennen wir die Methode des ontogenetischen Denkens. Die nachstehende Tabelle fasst die drei Schritte noch einmal übersichtlich zusammen.

 

 

1. Schritt: Empirie

2. Schritt: Theorie

3. Schritt: Historie

Betrachtungsebene

Phänomenologie

Ontologie

Genealogie

Leitfrage

Welche Eigenschaften hat das betrachtete System?

Wie muss das System aufgebaut sein, um diese Eigenschaften zu erzeugen?

Wie kann das System entstanden sein?

Aufgabe

Beobachte alle Eigenschaften des Systems, die für das Systemverständnis wesentlich erscheinen!  

Stelle theoretische Über­legungen an, aus welchen Elementen das System besteht und auf welchen Wechsel­wirkungen die System­organisation beruht!

Beschreibe den zeit­lichen Ent­stehungs­weg des Systems auf der Ebene des individuellen Systems sowie ggf. auch auf der Ebene der Gattung!

Methodik

Beobachtung und Experiment

Hypothesenbildung und theoretische Erklärungen

Quellenstudium historischer Zeugnisse und Extrapolationen

 

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