Schon als kleiner Junge habe ich gern über alles mögliche nachgedacht und die Erwachsenen schier endlos mit Fragen gelöchert. Meine Spielkameraden fanden es jedoch ziemlich sonderbar, als ich die Frage nach meinen Hobbys mit "Nachdenken" beantwortete. Da sich keiner an meinen Überlegungen beteiligen wollte, behielt ich meine Gedanken lieber für mich. 

Während der Schulzeit hatte ich den Spitznamen "Der Alles-Versteher". Sportlich und musikalisch war ich nicht wirklich talentiert, aber alle anderen Fächer interessierten mich. Das Lernen fiel mir leicht. Ich wollte so gern verstehen, wie die Welt funktioniert. Ich befasste mich über den Schulstoff hinaus mit Mathematik, las Bücher über die naturgeschichtliche Entwicklung des Weltalls und des Lebens auf der Erde. In der Schule gestalte ich Info-Tafeln über die großen Entdecker und Erfinder, deren Leben und Wirken mich begeisterte. An der Chemie faszinierte mich, wie es mit der Aufstellung des Periodensystems der Elemente gelang, eine überschaubare Ordnung in die Vielfalt der chemischen Vorgängen zu bringen. Später studierte ich Physik, weil ich hoffte, dadurch die Grundprinzipien der Natur zu verstehen. Allerdings stellte ich fest, dass die wirklichen fundamentalen Grundfragen ins Reich der Philosophie gehören und man Wissen aus ganz verschiedenen Gebieten kombinieren muss, um zu einer Antwort zu gelangen. In der Wissenschaft wird ein fächerübergreifendes Zusammenwirken jedoch von den tiefen Gräben zwischen den Disziplinen verhindert. Der Trend geht zu immer spezielleren Forschungsthemen, während die grundlegenden Fragen des Weltverständnisses aus dem Blick geraten. So fand ich denn keinen Platz im Wissenschaftsbetrieb und widmete mich in meinem Berufsleben eher praktischen Aufgaben. 

Mein Gehirn hat eine wirklich seltsame Eigenheit: Manchmal nimmt es eine Situation als "Videofilm" auf, den mir mein Gehirn danach erneut vorspielt. Dieses Mitschneiden passiert immer dann, wenn in einer Situation irgendetwas unstimmig ist. Wenn ich dann die Ursache der Unstimmigkeit erkannt und eine mögliche Lösung gefunden habe, leuchtet es hell in meinem Kopf und Aufregung macht sich breit. Zwei dieser Szenen möchte ich hier schildern:

  • Während meiner Studienzeit kam der Physikprofessor in der Vorlesung auf den Spin der Elektronen zu sprechen. Um die Aufspaltung der Elektronenbahnen in einem Atom beim Anlegen eines Magnetfelds erklären zu können, hatte man im Jahr 1925 die Vermutung aufgestellt, dass Elektronen einen inneren Drehimpuls von h/4π besitzen, den sogenannten Elektronenspin. Mit einer kurzen Rechnung zeigte der Physikprofessor uns Studenten, dass man mit dem Elektronenspin in Widersprüche zu anderen physikalischen Theorien geriet - die Elektronen müssten schneller als mit Lichtgeschwindigkeit rotieren und ihre Rotationsenergie betrüge ein Vielfaches des Energieäquivalents ihrer Masse. Trotz dieser Widersprüche sei es heute allgemein akzeptiert, dass die Elektronen einen Spin besitzen. Der Spin sei eine Eigenschaft von Teilchen, die sich mit der Quantenmechanik beschreiben lasse, aber nicht im Einklang mit den Theorien der klassischen Mechanik stünde. Der Professor forderte uns auf, diesen Umstand fraglos hinzunehmen und nicht weiter darüber nachzudenken, weil man sonst nur von der produktiven Beschäftigung mit lösbaren physikalischen Problemen abgehalten würde. Ich nahm die Erklärung vordergründig hin, aber in meinem Inneren fand ich es höchst befremdlich, dass Studenten dazu ermuntert werden, logische Widersprüche in den physikalischen Theorien einfach hinzunehmen. In späteren Jahren ist mir diese denkwürdige Szene immer wieder in den Sinn gekommen, weil es mir entgegen dem Rat des Professors deuchte, dass hinter diesem logischen Widerspruch der Schlüssel zu einem tieferen physikalischen Verständnis liegen könnte. Tatsächlich fiel mir Jahrzehnte später eine Möglichkeit ein, wie man die mit dem Elektronenspin zusammenhängenden Widersprüche auflösen kann. 
  • Bei einem populärwissenschaftlichen Vortrag berichtete der Biochemiker Manfred Eigen (1927-2019), dass weniger als drei Prozent des menschlichen Erbguts in Proteine übersetzt werden, also Gene im eigentlichen Sinne sind. Die restliche Erbmasse hielt der Nobelpreisträger für "Junk DNA" - überflüssiges Erbgut, das sich während der Evolutionsgeschichte angesammelt hat und mittlerweile nutzlos war. Mein Gehirn schlug Alarm und brannte die Szene tief in meinem Gedächtnis ein: Mir schien es vollkommen unplausibel, dass ein Organismus so viel nutzloses Erbgut mit sich herumschleppen und von Generation zu Generation weitergeben sollte. Stattdessen leuchtete hell eine alternative Erklärung in meinem Geiste auf: In der vermeintlichen Junk-DNA könnten die Algorithmen stecken, die bestimmen, welche Gene jeweils in einer bestimmten Zelle aktiv sind und in Proteine übersetzt werden. Jede Zelle verfügt ja über dasselbe Erbgut, aber nicht alle Gene sind in jeder Zelle zu jeder Zeit aktiv. Für diese situative Aktivierung der Gene muss es im Erbgut neben den proteincodierenden Genen auch einen Programmcode geben - dazu könnte die vermeintliche Junk DNA dienen! Wie konnte der angesehene Nobelpreisträger diese naheliegende Vermutung übersehen? 

Szenen wie diese konnte ich nie vergessen. Manchmal fiel mir sofort eine mögliche Auflösung für die wahrgenommene Ungereimtheit ein, über andere Merkwürdigkeiten habe ich über viele Jahre hinweg immer wieder nachgedacht. Auf diese Weise habe ich im Laufe meines Lebens eine Reihe von Erklärungen für ungelöste wissenschaftliche Rätsel angesammelt, die nicht mit der anerkannten Lehrmeinung übereinstimmen. Als Außenseiter schien mir es jedoch aussichtslos zu sein, meine Gedanken in einem etablierten wissenschaftlichen Journal zu veröffentlichen. Die meisten Gedanken hatte ich nie mit jemandem geteilt, nur einige wenige Überlegungen habe ich zu Papier gebracht. Die Manuskripte steckten in einem verstaubten Leitz-Ordner in meinem Schlafzimmer, bis einige Freunde mich ermunterten, andere daran teilhaben zu lassen. Nun sitze ich also da und ordne meine Gedanken, prüfe sie auf Stringenz und Relevanz. Was die Selbstzensur überstanden hat, findet sich nach und nach auf welträtsel.org. Vielleicht können meine Überlegungen dem einen oder anderen, der ebenso wie ich die Faszination für fundamentale Fragen nicht verloren hat, als Inspirationsquelle dienen.  

Euer Werner Ahrendt

 

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