Hauptberuflich bin ich Leiter einer Internen Revision. Als Revisoren schauen wir den Kolleginnen und Kollegen über die Schulter, ob sie bei ihrer Tätigkeit alle relevanten Vorschriften einhalten und ob ihre Geschäftsprozesse angemessen sind. Manchmal stellen wir dabei fest, dass den Geprüften gar nicht bewusst ist, dass sie einschlägige Vorschriften bislang ignoriert haben. In solchen Situationen bedarf es vieler Gespräche, um bei den Geprüften die Einsicht zu wecken, dass sie relevante Aspekte komplett übersehen haben.   

Bei meiner Revisorentätigkeit kommt mir oft eine Bibelstelle in den Sinn. In der Bergpredigt fragte Jesus: „Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem Auge bemerkst du nicht? Wie kannst du zu deinem Bruder sagen: Lass mich den Splitter aus deinem Auge herausziehen! - und siehe, in deinem Auge steckt ein Balken! Zieh zuerst den Balken aus deinem Auge, dann kannst du zusehen, den Splitter aus dem Auge deines Bruders herauszuziehen!“ Offenbar fällt es uns leichter, blinde Flecken bei unseren Mitmenschen zu entdecken als in unserer eigenen Weltsicht. Es ist verdammt schwer, selbst zu sehen, was man eben nicht sieht. Dazu bedarf es entweder des Hinweises von anderen oder einer selbstkritischen Reflexion.

Durch Wirrungen in der Mitte meines Lebens, die gewöhnlich als Mid-Life-Crisis bezeichnet werden, fühlte ich mich gezwungen, nach den eigenen blinden Flecken zu suchen. In einem ersten Impuls meinte ich: Größere blinde Flecken habe ich nicht! Das konnte aber bei ehrlicher Betrachtung eigentlich nicht sein, denn bei allen meinen Mitmenschen entdeckte ich Dornen in deren Augen, die ihnen die Sicht auf bestimmte Aspekte verstellten. Warum sollten andere Menschen bei mir keine solchen Dornen entdecken? Erst nach langer und teils schmerzhafter Suche wurden mir einige systematische blinde Flecken in meiner eigenen Wahrnehmungswelt bewusst. Ohne Hilfe von außen hätte ich sie kaum entdeckt.

Es ist ein natürlicher psychologischer Mechanismus, dass wir die Begrenzungen unserer eigenen Sicht verdrängen. Das gilt auch in der Wissenschaft. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind auch bloß Menschen und unterliegen unseren kognitiven Beschränkungen. Wissenschaftliche Publikationen werden daher von Fachkollegen kritisch auf Fehler überprüft. Gegen kollektive blinde Flecken einer ganzen Fachgemeinschaft hilft dieser Peer Review jedoch nicht. Und externe Revisoren gibt es in der Wissenschaft nicht. Wer sollte sich auch anmaßen, die hochgradig spezialisierte Arbeit von Forschern von außen zu kontrollieren?

Unser heutiger Stand des Wissens kann noch nicht der Weisheit letzter Schluss gewesen sein. Ähnlich wie die Generationen vor uns an falsche Theorien und Überzeugungen geglaubt haben, enthält bestimmt auch unser heutiges Weltbild viele Fehler. Die Dornen in den Augen unserer Vorfahren erkennen wir in voller Schärfe - doch wo sind die Balken vor unseren eigenen Augen? Da uns kein Außenstehender auf diese Balken vor unseren kollektiven Augen hinweisen kann, müssen wir selbst aktiv danach suchen. Wenn man sich aufmacht und den heutigen Stand des Wissens mit sachkundigem, aber unbefangenem Auge durchleuchtet, so stößt man auf eine Fülle von Auffälligkeiten und Merkwürdigkeiten. Da es im Laufe der Erkenntnisgeschichte häufig so gewesen ist, dass unerklärliche Befunde und logische Widersprüche zum Ausgangspunkt neuer Überlegungen wurden, bin ich überzeugt, dass eine Befassung mit den Auffälligkeiten und Widersprüchen im heutigen Wissen zu neuen Erklärungsansätzen führen kann. Lasst uns nach den Balken vor unseren Augen suchen!

Euer Matthias Kölbel

Kommentare powered by CComment