Zu den Steinreihen von Carnac gibt es viele Spekulationen. Welche Deutung ist am überzeugendsten?
Die Steinreihen von Carnac sind ebenso faszinierend wie mysteriös. In der lokalen Bevölkerung kursieren von alters her verschiedene Legenden. Demnach erwachten die Steine nachts zum Leben und gingen zum Baden ins nahegelegene Meer. Auch wurden den Steinen magische Fähigkeiten zugeschrieben - etwa Leiden zu lindern, die Fruchtbarkeit zu steigern und den richtigen Partner fürs Leben zu finden. Einem anderen Glauben zufolge handelt es sich bei den Megalithen um römische Soldaten, die versteinert wurden, als sie den heiligen Cornelius verfolgten. Cornelius war von 251-253 n.Chr. Bischof von Rom und wird als Schutzpatron des Hornviehs verehrt. Die Steinreihen von Carnac wurden jedoch bereits ungefähr 4.000 Jahre vor der Römerzeit errichtet, wie eine Datierung mit der Radiocarbon-Methode ergab.
Die Assoziation mit einem Soldatenfriedhof taucht in unterschiedlichen Varianten immer wieder auf, seit es schriftliche Berichte über die Steinreihen von Carnac gibt. Unterstützt wird diese Deutung durch den Namen eines der Steinfelder - "Kermario" bedeutet auf bretonisch "Ort der Toten".
Andere Interpretationen nehmen an, dass es sich bei den Steinen um eine codierte Landkarte des Himmels oder der Erde handelt. So behauptet Arthur Faram, die Anordnung der Steine markierte die damals bekannten Gebiete der Erde. Mit den von ihm aufgestellten Regeln der "Geoglyphologie" (geo = Erde, glypho = Stein, logie = Lehre) lassen sich Linien zwischen herausgehobenen Steinen ziehen, die auf andere prähistorische Stätten wie Stonehenge verweisen würden.
Der französische Archäologe Serge Cassen (*1957), der im Besucherzentrum von Carnac zitiert wird, sieht in den Steinreihen eine Verteidigungslinie gegen übernatürliche Gefahren, die vom Meer ausgehen.
Einschätzung der Erklärungsansätze
Stärken:Positiv lässt sich anführen, dass es mehrere alternative Deutungsansätze für die Steinreihen von Carnac gibt.
Schwächen:Keiner der Erklärungsansätze analysiert zunächst gründlich, welche Eigenheiten die Steinreihen von Carnac besitzen, und versucht danach eine logisch schlüssige Erklärung dieser Eigenheiten abzuleiten. Die volkstümliche Legende der Versteinerung römischer Soldaten passt nicht mit der wissenschaftlich fundierten Datierung der Entstehungszeit der Steinreihen zusammen.
Äußerst spekulativ erscheint die Deutung von Arthur Faram, dass es sich bei den steinernen Zeugnissen verschiedenster Kulturen und Epochen um chiffrierte Landkarten handelt, die sich mittels der Regeln der Geoglyphologie entziffern lassen. Faram lässt viele Fragen unbeantwortet: Aus welchem Grund sollten die Menschen eine komplizierte Codierung eingesetzt haben, statt eine unmittelbar verständliche Darstellung der Erde zu verwenden, wie wir es heute mit Landkarten und Globen tun? Und warum hat man so viel mehr Steine aufgerichtet, als für die Codierung eigentlich nötig waren? Welche direkten oder indirekten Hinweise gibt es, dass die von Faram angegebenen Regeln der Geoglyphologie zutreffend sind? Wie plausibel ist sein Resultat, dass einige Steine von Carnac auf Orte auf dem amerikanischen Kontinent verweisen, die nach unserem heutigen historischen Wissen für die Menschen der Steinzeit unerreichbar waren?
Auch die Ansicht von Cassen, dass die Steinreihen eine Verteidigungslinie gegen übernatürliche Gefahren bilden, vermag nicht zu überzeugen - warum sollten solche übernatürlichen Gefahren nur an einer Stelle der Bretagne gedroht haben und die damaligen Menschen zu der gewaltigen Anstrengung verleitet haben, ausgerechnet an dieser Stelle dieses einmalige Bauwerk zu errichten? Plausibler erscheint die Hypothese von Werner Ahrendt, dass ganz reale Gefahren vom Meer ausgingen (in Gestalt fremder Invasoren, die mit Schiffen in der Bretagne landeten), gegen die nur ein Bündnis mehrerer Landstreitmächte bestehen konnte, woran die nachfolgenden Generationen mit einem steinernen Kriegerdenkmal erinnert werden sollten.
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