Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, 
durch die sie entstanden sind.

Albert Einstein (1879 - 1955)

Die Wissenschaft der Physik hat sich in den letzten 500 Jahren darauf beschränkt, das Geschehen in der Natur mit Messgeräten zu erfassen und die gefunden Zusammenhänge mit mathematischen Formeln zu beschreiben. Die heutige Physik kann daher weder die Frage nach dem Wesen der Dinge noch die Frage nach der Genese der physikalischen Gesetze beantworten. Beide Fragen gelten als tabu.

Fairerweise muss man einräumen, dass die Frage nach dem Wesen der Dinge sehr viele Fallstricke bereithält, in denen sich schon viele Denker verheddert haben, während die Fokussierung der modernen Naturwissenschaften auf das Erfassen der Phänomene durch Messen tatsächlich einen gewaltigen Erkenntnisfortschritt gebracht hat. Andererseits muss man heute konstatieren, dass der Erkenntnisfortschritt in der Physik mit dem Übergang ins 21. Jahrhundert ins Stocken geraten scheint. Die großen Theorien des 20. Jahrhunderts – Relativitätstheorie, Quanten­mechanik und Standardmodell der Elementarteilchen – befinden sich anscheinend in glänzender Übereinstimmung mit den empirischen Beobachtungen und experimentellen Befunden. Die Experimentalphysiker haben nur wenig aufzubieten, was geeignet ist, grundlegende Zweifel an den heute akzeptierten Theorien zu säen. Auf der anderen Seite herrscht unter den Theoretischen Physikern ein gewisses Unbehagen, weil die grundlegenden physikalischen Theorien wie solitäre Blöcke nebeneinanderstehen und zahlreiche willkürliche Parameter enthalten. Alle intensiven Versuche der letzten Jahrzehnte, Gravitation und Quantenmechanik in ein einheitliches Theoriekonzept zu überführen, sind mehr oder minder erfolglos geblieben. Unschön ist auch der Umstand, dass die Kosmologie zu hypothetischen Hilfsannahmen wie der Dunklen Materie und der Dunklen Energie greifen muss, um die astronomischen Beobachtungen im Einklang mit den akzeptierten physikalischen Theorien zu halten. Die heutige Situation in der Kosmologie erinnert den wissenschaftshistorisch bewanderten Betrachter an die Theorie der Epizykel, die von den mittelalterlichen Astronomen eingeführt wurde, um die beobachteten Planeten­bahnen mit dem geozentrischen Weltbild im Einklang halten zu können. Dennoch werden kritische Töne nur von wenigen Außenseitern wie den Sachbuchautoren Alexander Unzicker oder Sabine Hossenfelder geäußert, während die Scientific Community der aktiven Physikerinnen und Physiker von der Richtigkeit der allgemein akzeptierten Theorien weitgehend überzeugt ist.

Beim Übergang vom 19. ins 20. Jahrhundert befand sich die Physik schon einmal in einer Situation, in der man den Eindruck hatte, dass es physikalischen Erkenntnisfortschritt nur noch in Detailfragen geben könne. Damals waren die Großtheorien des 18. und 19. Jahrhundert – Klassische Mechanik und Elektrodynamik – experimentell hervorragend bestätigt. Viele Physiker glaubten damals, das physikalische Theoriengebäude sei im Wesentlichen vollständig und abgeschlossen. Auf der anderen Seite gab es einige experimentelle Befunde wie das Michelson-Morley-Experiment, den lichtelektrischen Effekt oder die Wärmekapazität von Stoffen bei tiefen Temperaturen, die sich nicht in Einklang mit den etablierten Theorien bringen lassen wollten. Diese Befunde wurden dann zum Ausgangspunkt der theoretischen Neuerungen des frühen 20. Jahrhunderts, der Relativitätstheorie und der Quantenmechanik.

In Analogie zur historischen Situation am Beginn des 20. Jahrhunderts erhoffen die heutigen Physiker den Impuls zur Erweiterung der physikalischen Theorien von neuen experimentellen Befunden. Diese wollen sich aber partout nicht einstellen. Daher scheiden sie als Inspirationsquelle für eine Weiterentwicklung der Physik aus. Als Ausgangspunkt für eine Weiterentwicklung der Physik muss man daher wohl stattdessen die Unzulänglichkeiten im Theoriegebäude heranziehen. Dass es trotz langjähriger intensiver Bemühungen nicht gelungen ist, die großen physikalischen Theorien weiter zu vereinheitlichen, ist ein starkes Indiz dafür, dass man an der falschen Stelle nach einem Zugang gesucht hat. Wie Albert Einstein treffend bemerkte, kann man Probleme niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind. Daher scheint es an der Zeit, einige Grundannahmen der physikalischen Theoriebildung kritisch zu hinterfragen, um den gewohnten Denkrahmen zu verschieben. Oder wie Anton Zeilinger meint: Es ist an der Zeit, mal wieder die Frage nach dem Wesen der Dinge zu stellen. Wir sollten uns also mit der ontologischen Frage befassen, was hinter den physikalischen Begriffen steckt. 

Jede Theorie enthält notgedrungen ontologische Begriffe, die sich nicht unmittelbar aus der Beobachtung erschließen. In den heutigen physikalischen Theorien sind dies beispielsweise Masse und Energie, Kräfte und Felder. Einige dieser ontologischen Begriffe glauben die zeitgenössischen Physiker durch Messungen gut im Griff zu haben, dazu zählen Masse und Energie. Andere Entitäten wie das elektromagnetische Feld oder die Wellenfunktion der Quantenmechanik werden als rein begriffliche Konstruktionen eingeführt, die weder der unmittelbaren Beobachtung zugänglich sind noch in ihrem Wesen näher bestimmt werden.  

Der Mangel an Reflexion über die ontologischen Grundlagen des Faches hat zu der eingangs beschriebenen Situation geführt, dass die einzelnen Teile des physikalischen Theoriengebäudes auf völlig verschiedenen Fundamenten ruhen. Auftretende Widersprüche zwischen empirischen Beobachtungen und theoretischen Vorhersagen wurden durch ad hoc getroffene Hilfsannahmen wie der Dunklen Materie oder willkürliche Parametrisierungen überbrückt. Dadurch ist das physikalische Theorien­gebäude über die letzten Jahrzehnte immer komplizierter geworden. Daher scheint es an der Zeit, Ockhams Rasiermesser auszupacken und den gewachsenen Bart zu tilgen. Vereinfachung heißt das Gebot der Stunde. Statt weitere Anbauten im Theoriegebäude vorzunehmen, sollten wir nach inneren Zusammenhängen suchen. 

Doch wo könnte eine solche Suche ansetzen?

  • Ein naheliegender Ansatzpunkt sind die logischen Widersprüche im bisherigen Theoriengebäude. In solche Widersprüche gerät man beispielsweise, wenn man versucht, den Spin der Elementarteilchen zu deuten oder die Masse des Elektrons aus der Energie seines elektrischen Feldes zu berechnen. Von diesen bekannten Widersprüchen hört man im Physikstudium, wird allerdings eindringlich davor gewarnt, sich weiter damit zu befassen, weil dies aussichts­los sei und nur von der produktiven Beschäftigung mit anderen Problemen abhalten würde. Wir denken hingegen, dass man den Mut haben muss, diese intellektuellen Stoppschilder zu ignorieren, wenn man die misslichen Widersprüche im physikalischen Theoriegebäude auflösen will. Man sollte es machen wie ein Specht, der auf die maroden Stellen im Baum der Erkenntnis klopft. Wenn ein Wurm herauskommt und sich nach dessen Beseitigung herausstellt, dass neben der unmittelbar betroffenen Stelle auch noch andere marode Stellen verschwinden, so hat man einen Volltreffer gelandet. 
  • Ein weiterer geeigneter Ausgangspunkt für neue theoretische Ansätze sind bislang unerklärliche Auffälligkeiten und Ähnlichkeiten. Auch davon gibt es in der Physik noch reichlich viele. Niemand versteht beispielsweise, warum es in unserem Universum praktisch keine Antimaterie gibt, obwohl bei allen uns bekannten Umwandlungsprozessen für jedes Teilchen (Materie) auch ein Antiteilchen (Antimaterie) entsteht. Oder warum die elektrische Ladung und der Spin bei allen Elementarteilchen im Verhältnis kleiner ganzer Zahlen zueinanderstehen, während die Ruhemassen keinerlei Zusammenhänge erkennen lassen. Oder warum man die Bewegungsgleichungen in sämtlichen Teilgebieten der Physik aus dem Prinzip der extremalen Wirkung herleiten kann.  
  • Worauf solche Auffälligkeiten und Ähnlichkeiten zurückzuführen sein könnten, lässt sich allerdings nicht logisch ableiten, sondern gewissermaßen nur erraten. Ein wirkmächtiger Kompass bei dieser Suche können übergeordnete Überlegungen sein, aus denen sich ergibt, welche Struktur die gesuchte Theorie haben müsste. Man sollte sich dabei aber davor hüten, nur solche Theorietypen in Betracht zu ziehen, mit denen man in der Vergangenheit gut gefahren ist. Besser wäre es, Eckpfeiler der gesuchten Theorien aus allgemeingültigen philosophisch-erkenntnistheoretischen Überlegungen abzuleiten. 

Mit diesem Rüstzeug ausgestattet, wollen wir uns auf die Suche nach einer Vereinheitlichung und Vereinfachung des physikalischen Theoriengebäudes machen. Dabei wollen wir das heutige physikalische Wissen ernst nehmen, insbesondere die gut gesicherten empirischen Beobachtungen. Allerdings sollten wir uns darauf gefasst machen, dass nicht alle heute akzeptierten Theorien wie Puzzle-Stücke nahtlos zueinander passen, sondern an der einen oder anderen Stelle erst zurechtgeschnitten werden müssen, um passfähig zu werden. 

Literaturtipps:

  • Richard P. Feynman, Robert B. Leighton, Matthew Sands: The Feynman Lectures on Physics, Addison-Wesley 1964/65 (Deutsche Millenniums-Edition im Verlag De Gruyter 2015). 
  • Carl Friedrich von Weizsäcker: Der Aufbau der Physik, Hanser München 1985.
  • Alexander Unzicker: Auf dem Holzweg durchs Universum – warum sich die Physik verlaufen hat, Hanser München 2012.
  • Sabine Hossenfelder: Das hässliche Universum – warum unsere Suche nach Schönheit die Physik in die Sackgasse führt,  Verlag S. Fischer 2018.

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