Laut der gängigen Lehrmeinung der Anthropologen lebten die Vorfahren des Menschen in Afrika. Frühe Vorfahren waren Waldbewohner. Daher rührt unsere Greifhand, die es erlaubt, den Daumen abzuspreizen und den andern vier Fingern gegenüber zu stellen. Die Fachleute sprechen von Abduzierbarkeit und Opponierbarkeit des Daumens. Der Lebensraum unser Vorfahren veränderte sich dann – möglicherweise durch ein verändertes Klima – zu einer Savanne. Unsere Vorfahren begannen daher, zunehmend aufrecht zu gehen. Die Hände wurden dabei nicht mehr für die Fortbewegung gebraucht und standen für den Werkzeuggebrauch zur Verfügung.
Die Möglichkeit zum Werkzeuggebrauch kann aber nicht die Triebfeder für die zunehmende Intelligenz unserer Vorfahren gewesen sein. Denn über Hunderttausende von Jahren begnügten sich unsere Vorfahren mit einfachen Werkzeugen aus Stein, Holz und Knochen. Die Triebfeder muss andernorts gelegen haben. Es muss einen sehr starken und über Generationen andauernden Selektionsdruck gegeben haben. Da der Mensch nur wenige natürliche Feinde hat und die klimatischen Bedingungen auch keinen extremen Selektionsdruck ausübten, kann der Selektionsdruck eigentlich nur von innen gekommen sein – aus dem Zusammenleben innerhalb der eigenen Art. Ziemlich sicher lebten unsere Vorfahren in sozialen Kleingruppen, wie es auch unsere Verwandten unter den Menschenaffen tun. Wie sich das soziale Zusammenleben unserer Vorfahren gestaltete, darüber gibt es natürlich leider keine Belege; man kann nur Hypothesen aufstellen und schauen, ob sich ein Selektionsdruck ergibt, der die Eigenschaften des heutigen Menschen erklären kann.
Eine Hypothese lautet, dass Vorfahren des Menschen gewalttätig und kannibalisch veranlagt waren. Diese Annahme mag schrecklich klingen, aber sie ist durchaus plausibel, da auch ein naher Verwandter unter den Menschenaffen, der Schimpanse, gelegentlich kannibalisches Verhalten zeigt und Jagd auf Schimpansen anderer Gruppen macht, die dann auf brutale Weise behandelt und verspeist werden. Um als Individuum in einer kannibalischen Art zu überleben und sich durchzusetzen, muss man entweder körperlich stark oder geistig rege sein. Wer körperlich stark ist, kann Angriffe besser abwehren oder wird aus Respekt gar nicht erst angegriffen und kann selbst gegenüber anderen aggressiv auftreten. Wer clever ist, vermag die Absichten seines Gegenübers zu durchschauen und selbst bei körperlicher Unterlegenheit am Ende erfolgreicher sein. Am besten ist es natürlich, stark und clever zu sein. Je stärker und cleverer die Angreifer im Laufe der Generationen wurden, desto stärker oder cleverer mussten auch die übrigen Artgenossen werden, weil sie sonst verspeist worden wären und damit nicht mehr an der biologischen Reproduktion teilgenommen hätten. Kannibalismus verursacht also innerhalb einer Art einen sich selbst verstärkenden Selektionsdruck, bei dem nur die Starken und/oder Cleveren überleben. Das würde erklären, warum der Homo sapiens so viel intelligenter geworden ist als seine Vorfahren und die nächsten verwandten Arten.
Nun sind wir heutigen Menschen zwar immer noch gewaltbereit, aber wesentlich friedfertiger als Schimpansen. Daher muss es noch einen anderen entscheidenden Selektionsdruck gegeben haben. Dieser Selektionsdruck könnte aus dem Verhalten der weiblichen Gruppenmitglieder bei der Partnerwahl gekommen sein. Biologen ist aufgefallen, dass sowohl der Mensch als auch die vom Menschen domestizierten Haustiere merkwürdige Gemeinsamkeiten haben, etwa einen verkürzten Gesichtsschädel und nachlassende Körperbehaarung gegenüber früheren Wildformen. Man denke nur an das Aussehen von Hausschweinen im Vergleich zu Wildschweinen. Evolutionsexperimente mit verschiedenen Säugetierarten haben gezeigt, dass sich diese sekundären Merkmale herausbilden, wenn man jeweils die friedfertigsten Tiere bei der Zuchtwahl favorisiert. Auf den Menschen übertragen hieße dies, dass unsere weiblichen Vorfahren eine Vorliebe für friedfertige männliche Partner gehabt haben. Auf den ersten Blick erzeugt dies einen logischen Widerspruch: Die (männlichen) Anführer einer Gruppe sollten möglichst stark und aggressiv sein, um die Gruppe gegen Angreifer von außen (oder innen) zu verteidigen oder aktiv auf Beutezug gegen andere rivalisierende Gruppen gehen zu können. Andererseits sollte sich ihre Aggression und kannibalischen Gelüste nicht gegen eigene Gruppenmitglieder richten, insbesondere nicht gegen die körperlich schwächeren weiblichen Gruppenmitglieder und den Nachwuchs. Die weiblichen Gruppenmitglieder mussten also bei ihrer Partnerwahl dafür sorgen, dass es genug aggressiven männlichen Nachwuchs gibt, dessen Aggression sich aber später nicht auf das Gruppeninnere auswirkt, und das andererseits auch ein paar Clevere, die es zwar mangels körperlicher Stärke nicht an die Spitze der Gruppe geschafft haben, eine Paarungschance erhalten. Ein solcher Spagat ist nur durch ambivalentes Paarungsverhalten zu bewerkstelligen – Fremdgehen und Kuckuckskinder inklusive. Das schafft man nur durch komplexe soziale Verhaltensweisen, die für männliche Gruppenmitglieder nicht voll durchschaubar sind. Und da die Zeitspanne zwischen Geburt und Geschlechtsreife bei unseren Vorfahren immer länger wurde, musste zudem den männlichen Anführern der Hang zum Infantizid ausgetrieben werden, also die bei etlichen Tierarten verbreitete Sitte, bei Wechsel des Anführers die noch jungen Kinder des Vorgängers zu töten. Hätten unsere Vorfahren konsequent Infantizid betrieben, wären sie wohl ausgestorben, weil es kaum ein Kind mehr bis ins Erwachsenalter geschafft hätte.
Wenn diese beiden Hypothesen zu wesentlichen evolutionären Selektionsdrücken in der Menschheitsentwicklung richtig sind, dann ergeben sich als Konsequenzen:
- Dumme Weibchen hatten einen Selektionsnachteil, den sie auch nicht durch körperliche Stärke wettmachen konnten, da die Männchen fast immer stärker waren. Weibchen sollten also mindestens durchschnittlich intelligent sein, wenn sie im statistischen Mittel über viele Generationen nicht „ausgemendelt“ werden wollten. Überdurchschnittlich clevere Weibchen hatten aber möglicherweise auch einen Selektionsnachteil, weil es der Boss womöglich nicht auf Dauer geduldet hätte, von einer zu klugen Partnerin dominiert zu werden.
Diese Konsequenz deckt sich mit einer Beobachtung, die man heute in Schulen machen kann. Die meisten Mädchen zeigen leicht überdurchschnittliche Leistungen - ganz schwache Leistungen, aber auch singuläre Einzelbegabungen sind vergleichsweise selten. Diese Beobachtung mag auch kulturelle Ursachen haben, weil Mädchen von ihrem Sozialverhalten her tendenziell besser mit dem Schulsystem klarkommen, aber die Beobachtung steht zumindest nicht im Widerspruch zu den evolutionsbiologisch abgeleiteten Konsequenzen.
- Bei Männchen hingegen konnte sowohl die Strategie, stark zu sein, als auch die Strategie, besonders clever zu sein, zu einem Selektionsvorteil führen. Cleverness und Stärke sollten folglich bei männlichen Individuen eine größere Spannbreite haben können als bei weiblichen Individuen.
Auch diese Konsequenz deckt sich mit Beobachtungen am heutigen Menschen: Die Spannbreite an körperlicher Stärke und Intensität an Begabungen ist bei Jungen viel größer als bei Mädchen. Zu diesem phänomenologischen Befund passt auch eine molekularbiologische Erkenntnis: Während bei weiblichen Individuen zwei X-Chromosomen vorhanden sind und für einen gewissen Ausgleich zwischen den vom Vater und von der Mutter geerbten Eigenschaften sorgen, besitzen männliche Individuen nur ein X-Chromosom, so dass hier Veränderungen im Erbgut einen größeren Effekt haben. Die größere Schwankungsbreite bei Männern liegt nicht am Y-Chromosom, das viel kleiner als das X-Chromosom ist und im Laufe der Evolution immer weiter eingekürzt wurde, sondern am fehlenden zweiten X-Chromosom.
- Das Sozialverhalten der Weibchen muss um einiges komplexer sein als das Sozialverhalten der Männchen. Die wahre Macht muss eigentlich bei dem führenden Weibchen der Gruppe liegen, dass sich aber zur Ausübung ihrer Macht ihres männlichen Partners bedienen musste, der aber wiederum nicht merken durfte, dass er eigentlich nur das Werkzeug in den Händen seiner Partnerin war. Nun, diese Konstellation findet man wohl auch heute noch bei vielen Paaren und Familien, wo formal der Mann nach außen hin das Familienoberhaupt darstellt, aber zuhause die Frau die „Hosen anhat“. Männer glauben oft, sie seien die Chefs, aber in Wahrheit sind sie nur der rauchende Colt in der Hand ihrer Partnerin. Wunderbar gezeichnet wurde dieses stereotype Geschlechterverhältnis in der Zeichentrickserie über den cleveren Wikinger-Jungen Wickie, dessen Vater Alvar zwar der bärenstarke Anführer seines Wikinger-Dorfes ist, zuhause bei seiner Frau Ylva aber nichts zu lachen hat.
Unsere Intelligenz ist also nicht primär entstanden, um Werkzeuge zu gebrauchen und die Erde untertan zu machen, sondern um unser Sozialleben zu bewerkstelligen. Wenn es so ist, dann sollte das Sozialverhalten des Menschen eine große Palette evolutionär geprägter Verhaltensmuster umfassen. Die Freiheit des Menschen besteht darin, zwischen verschiedenen Schemata auszuwählen, die situativ das Beste für uns sind. Die Zunahme der Handlungsfreiheit im Laufe der Evolutionsgeschichte des Menschen ist wieder durch eine positive Rückkopplung zu erklären: Wer unter unseren Vorfahren variabel zwischen verschiedenen Handlungsoptionen auswählen konnte, war bei einem Angriff oder einer Verteidigung für seinen Gegner weniger berechenbar und konnte dadurch einen Überlebensvorteil gewinnen, wenn er die Zukunft richtig vorhersah. Diese Fähigkeit zur freien Handlungsabwägung setzte sich daher allmählich evolutiv im ganzen Stamm durch, was wiederum die Gegner ebenfalls immer cleverer werden ließ, wodurch nur durch ein noch größeres Maß an Unabhängigkeit von vorgeprägten Reflexen und durch eine noch präzisere Abwägung zwischen verschiedenen Zukunftsszenarien ein Vorteil zu gewinnen war. Wir haben uns als Menschen also selbst zur Freiheit erzogen. Oder verdammt – wie man es nimmt.
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